Reproduktion
Epitokie
Zur Zeit der Geschlechtsreife sammeln sich die meisten Sylliden zur Fortpflanzung an der Meeresoberfläche (Schwärmen). Dazu sind morphologische und physiologische Umwandlungen dieser Tiere erforderlich (Epitokie), die eine Umstellung in der Bewegung (schnelles Dauerschwimmen) und Veränderung des Verhaltens (positive Phototaxis, Reaktionen auf Sexualpheromone, Einstellung der Nahrungsaufnahme) zur Folge haben.
Dabei wird der gesamte Muskelapparat umgebildet. Die Muskelfasern weisen eine Zunahme von eingelagertem Glykogen und eine Vervielfachung von Mitochondrien auf, und die Nephridien vergrößern sich, um als Gonodukte zu fungieren.
Von außen ist diese Umwandlung vor allem durch die Vergrößerung der Augen und Verlängerung der Antennen erkennbar sowie durch das Auftreten notopodialer Bündel zahlreicher Kapillarborsten ("Schwimmborsten") (s. Abb), die die ansonsten epibenthisch bzw. interstitiell lebenden Sylliden befähigen, sich im Pelagial fortzubewegen. Hierbei handelt es sich um einfache, haarförmige Borsten, die in der Regel deutlich länger als die neuropodialen Borsten sind und nach Beendigung der Epitokie und Wiedereintritt in die atoke Phase abgeworfen werden.
Zwei Grundformen der Epitokie werden unterschieden:
- Epigamie, bei der sich das gesamte Tiere in eine epitoke Form umwandelt, und
- Schizogamie, bei der die atoken Tiere ihre hinteren Segmente in epitoke Sexualformen umbilden, die nach Abschnürung vom Muttertier befähigt sind, sich im Pelagial fortzubewegen.
Relativ wenige Arten werden nicht epitok und leben auch während der Reproduktionszeit epibenthisch oder interstitiell (z.B. Petitia amphophthalma SIEWING, 1956, nach BÜHRMANN, WESTHEIDE & PURSCHKE 1996). Sphaerosyllis hermaphrodita WESTHEIDE, 1990 bildet zwar in einem Segment spezifische, epitoke Borsten (Genitalborsten), aber keine pelagischen Stadien. Die innere Befruchtung bei Sphaerosyllis hystrix CLAPARÈDE, 1863 spricht ebenfalls für das Fehlen eines epitoken Stadiums.
Epigamie
Bei der Epigamie wandelt sich das vollständige Tiere in eine epitoke Form ("Heterosyllis") um. Epigame Formen bilden "a hypertrophied cephalic sensory apparatus" (SCHROEDER & HERMANS 1975), wobei die Augen der Tiere an Größe und die Antennen an Länge stark zunehmen. Die Oocyten bzw. Spermatocyten entwickeln sich in nahezu allen postproventrikulären Körpersegmenten. Die Befruchtung der Eizellen erfolgt extern (Ontogenese über Trochophora-Larve) oder über Pseudokopulation (z.B. Pseudobrania clavata (CLAPARÈDE, 1863)).
Epigamie kommt bei den meisten Eusyllinae (z.B. Odontosyllis ctenostoma CLAPARÈDE, 1868) und Exogoninae (z.B. Exogone gemmifera PAGENSTECHER, 1863) vor, ist aber auch innerhalb der Autolytinae beschrieben worden (z.B. Autolytus longeferiens SAINT-JOSEPH, 1887).
Schizogamie
Bei der Schizogamie sind nur die atoken Tiere vollständig entwickelt und zur Nahrungsaufnahme befähigt. Sie bringen im Zuge eines der sexuellen Reifung parallel laufenden Metamorphoseprozesses epitoke Teilstücke (Stolonen, Geschlechtstiere) hervor, die nach Ablösung (Stolonisation) von ihrem Stammtier (Amme) ein kurzes pelagisches Eigenleben führen.
Dabei setzen die weiblichen und männlichen Geschlechtstiere ihre Gameten zur Befruchtung nach außen hin frei (äußere Befruchtung und freilebende Trochophora). Nach Erfüllung ihrer Aufgabe als Sexualstadien gehen die zu selbständiger Nahrungsaufnahme unfähigen Stolonen zugrunde; die am Boden zurückbleibenden Stammindividuen hingegen überleben den Stolonisationsprozess, können die ihnen in Form der Stolonen verlorengegangenen Segmente regenerieren und erneut stolonisieren.
Schizogamie ist typisch für die Syllinae und Autolytinae, soll aber auch innerhalb der Exogoninae vorkommen (VIGUIER 1885; MALAQUIN 1893). Bei der gemmiparen Schizogamie ("gemmiparity"; nur Autolytinae) entstehen die abzuschnürenden Stolonen aus neuen, praepygidial gebildeten Segmenten; bei der scissiparen Schizogamie ("scissiparity") durch Umbildung bereits vorhandener, atoker Segmente (Syllinae, einige Autolytinae).
Dabei können am Muttertier einzelne Stolonen (z.B. Typosyllis) heranreifen oder mehrere, die sich dann entweder in Form von Tierketten aneinanderreihen (z.B. Autolytus prolifer O.F. MÜLLER, 1788) oder einzeln an mehreren Segmenten des Muttertiers von posterior nach anterior entstehen (z.B. Trypanosyllis gemmipara JOHNSON, 1901; T. asterobia OKADA, 1933). Der jeweils älteste, zuerst gebildete Stolo befindet sich grundsätzlich am weitesten vom Muttertier entfernt und schnürt sich als erstes von diesem ab.
Die Arten der Gattung Typosyllis pflanzen sich - von wenigen Ausnahmen abgesehen - auschließlich durch scissipare Schizogamie fort.
Viviparie
Viviparie ist eine Form der Brutpflege, bei der sich die nachfolgende Generation bis zum Juvenilstadium im Coelomraum des Muttertieres entwickelt. Die Juvenilen werden vollständig ausgestattet mit zweiteiligem Pharynx und mehreren borstentragenden Segmenten und durch Aufbrechen der Epidermis des Muttertieres freigesetzt (DING, LICHER & WESTHEIDE 1998).
Es existiert keine freilebende Trochophora!
Viviparie ist nur von wenigen Arten innerhalb der Syllinae (z.B. Typosyllis vivipara (KROHN, 1869), T. parturiens (HASWELL, 1920), Dentatisyllis mortoni DING, LICHER & WESTHEIDE, 1998 sowie zwei Arten der Exogoninae (Exogone hebes POCKLINGTON & HUTCHESON, 1983; E. parhomoseta mediterranea SAN MARTÍN, 1984) bekannt.
Hermaphroditismus
Nur für wenige Sylliden ist Hermaphroditismus nachgewiesen. Bekannt sind Simultan-Hermaphroditen, die Oocyten und Spermien gleichzeitig bilden, und Sukzedan-Hermaphroditen, die Oocyten und Spermien zeitlich versetzt bilden.
Simultan-Hermaphroditen sind innerhalb der Syllinae (z.B. Typosyllis amica (QUATREFAGES, 1866), Eusyllinae (z.B. Odontosyllis corruscans (HASWELL, 1886) comb. nov.,) und Exogoninae (z.B. Pseudobrania clavata (CLAPERÈDE, 1863); Exogone gemmifera PAGENSTECHER, 1863; Sphaerosyllis hermaphrodita WESTHEIDE, 1990) bekannt.
Ein proterandrischer Sukzedan-Hermaphrodit, der männliche Gameten im Herbst und weibliche Gameten im Frühling bildet, ist Grubea protandrica DU PLESSIS, 1908 (Exogoninae).
Externe Gestation
Externe Gestation ist eine Form der Brutpflege, bei der die Embryonalentwicklung auf der Außenseite des Muttertieres stattfindet, wo sich die nachfolgende Generation in der Regel mit dem Hinterende an die Lateralseite der Segmente (z.B. "Exogone rubescens" ØRSTED, unveröffentlicht (in WOLFF & PETERSEN 1991) oder an die Dorsalcirren (Pionosyllis pulligera (KROHN, 1852)) des Muttertieres haftend bis zum Zeitpunkt der Ablösung entwickelt.
Dazu gelangen entweder bereits die Oocyten während der Oogenese zur äußeren Befruchtung durch die Epidermis nach außen oder die im Inneren befruchteten Eier, die dann dorsal durch winzige Borsten (KUPER & WESTHEIDE 1998) oder ventral über Drüsensekrete (KUPER & WESTHEIDE 1997c) am Muttertier angeheftet sind. Erst nach Abschluss der Juvenilentwicklung (Besitz von Augen, 3-5 Borstensegmente, Pharynx) lösen sich diese Individuen von ihrem Muttertier.
Es existiert keine freilebende Trochophora!
Gestation ist typisch für die Exogoninae (z.B. Exogone gemmifera PAGENSTECHER, 1863; Sphaerosyllis hystrix CLAPERÈDE, 1863), kommt aber auch bei mehreren Eusyllinae (z.B. Pionosyllis elegans, P. gestans) vor.
Laterale Knospung
Ein Phänomen ist die laterale Knospung ("collateral budding", POTTS 1911) der in Tiefseeschwämmen (Hexatinellida) vorkommenden Syllis ramosa M’INTOSH, 1879. Diese Art pflanzt sich durch Verzweigung fort, wobei sich die Sprosse nicht intersegmental, sondern anstelle eines Dorsalcirrus eines bereits vorhandenen Segments ("regeneration budding", POTTS 1911) oder aber an neu gebildeten Segmenten ohne Parapodien und ohne Cirren ("intercalary budding", POTTS 1911) entwickeln (OKADA 1895).
Dieser Art fehlen Pharynxtubus und Proventrikel!
Architomie
Eine ebenfalls ungewöhnliche Art der Reproduktion für Syllidae ist Architomie ("fragmentation"), bei der die Individuen in Einheiten von zwei, drei oder mehreren Segmenten zerfallen, aus denen dann neue, vollständig entwickelte Individuen entstehen.
Innerhalb der Syllidae ist diese Art der Fortpflanzung nur für Syllis gracilis GRUBE, 1840; Autolytus pictus EHLERS, 1864; Procerastea halleziana MALAQUIN, 1893 und Pionosyllis stilifera EHLERS, 1913 bekannt.
Architomie kann durch Herabsetzung der Salinität oder einem mit Seewasser isotonischen KCl-Medium künstlich induziert werden (OKADA 1929).
Steuerung der Reproduktion
Untersuchungen von ABELOOS (1950, 1951), DURCHON (1950, 1952), JUNQUA (1957) und HAUENSCHILD (1959) an Typosyllis prolifera (als Syllis prolifera), Typosyllis amica (als Syllis amica), Trypanosyllis zebra und Autolytus prolifer erbrachten erste Hinweise auf die Existenz einer inhibitorischen Kontrolle der sexuellen Reifung und stolonialen Metamorphose.
Bei den Syllinae und Autolytinae ist das endokrine System des Proventrikels als Zentrum umfangreicher regulatorischer Funktionen an der Kontrolle des Fortpflanzungsrhythmus entscheidend beteiligt (OKADA 1938; DURCHON 1957, 1959; DURCHON & WISSOCQ 1964; WISSOCQ 1966b; SCHIESGES 1977). FRANKE (1980) zeigte an Laborkulturen von Typosyllis prolifera, dass unter seinem Einfluss der unmittelbare Übergang von einer Fortpflanzungsperiode in die nächste verhindert und eine zwischenzeitliche Regeneration ermöglicht wird, wobei der Rhythmus des Wechsels von Regeneration und Fortpflanzungsvorgängen in Zusammenhang mit einer zyklischen Änderung der endokrinen inhibitorischen Aktivität des Proventrikels steht. Diese endokrine inhibitorische Aktivität des Proventrikels unterliegt ihrerseits einer hormonellen Steuerung durch das Prostomium, so dass die Anregung zu einer Stolonisation indirekt durch Inaktivierung des inhibitorischen proventrikulären Systems hervorgerufen wird (FRANKE 1981).
In das Zusammenwirken von proventrikulärem und prostomialem endokrinen System bei der Fortpflanzungskontrolle greifen exogene, jahreszeitlich bedingte Faktoren ein: Sommerbedingungen (Wassertemperatur: 20°C, Tageslänge: 16 h) führen zu einer Ausschüttung des im Prostomium lokalisierten "stolonization-promoting hormone" und initiieren damit Fortpflanzungsprozesse; Winterbedingungen (Wassertemperatur: 10°C, Tageslänge: 10 h) hingegen unterdrücken eine Ausschüttung dieses Hormons, wodurch das im Proventrikel lokalisierte "stolonization-inhibiting hormone" endokrinologisch aktiv ist und eine Einstellung der Fortpflanzung zur Folge hat (FRANKE 1983a, 1983b). Darüberhinaus hemmen Hungerbedingungen sowie der Verlust einer größeren Anzahl caudaler Segmente die Regeneration und führen zu einem vorübergehenden Ausfall weiterer Fortpflanzungsprozesse (FRANKE 1977, 1980). Die wesentliche Funktion dieser exogenen Faktoren besteht in der Synchronisation von Fortpflanzungsvorgängen innerhalb einer Population und damit zum Erhalt bzw. Verbreitung der Population.
Die Fortpflanzung der Syllinae wird damit von einem hierarchisch organisierten endokrinen System kontrolliert, wobei das Prostomium als übergeordnetes Zentrum den Einfluss von Außenbedingungen auf den Fortpflanzungstermin vermittelt.